Lars David Kellner

Lars David Kellners Einspielung sämtlicher Harmoniumwerke von Franz Liszt - Band 4

August 29, 2022

Lars David Kellners vierter Band der gesamten Harmoniumwerke von Franz Liszt ist soeben erschienen. Er enthält durchweg Ersteinspielungen bisher unbekannter Fassungen von Harmoniumstücken, außerdem zwei Transkriptionen geistlicher Chorwerke anderer Komponisten sowie ein neu entdecktes Werk Franz Liszts für Harmonium.

Lars David Kellners bemerkenswertes „Liszt-Harmonium-Projekt“ ist damit um ein weiteres Kapitel reicher. Unterstützt wurde der Künstler von der Deutschen Liszt-Gesellschaft, der Klassik Stiftung Weimar und der Liszt Society, die auch umfangreiche Textbeiträge im Booklet beisteuerten.

Minkyu Kim (The Liszt Society) über Franz Liszts „Werke für Harmonium, Band 4“:

Liszt produzierte oft mehrere Versionen seiner Musikstücke, sei es durch Abänderung bestehender Ausgaben oder auch durch deren komplette Neufassung. Das vorliegende Album enthält frühere oder alternative Versionen von Werken, die bereits in den drei vorliegenden Bänden der Lisztschen Harmoniumwerke von Lars David Kellner aufgenommen wurden, des weiteren zwei Transkriptionen von geistlichen Chorwerken anderer Komponisten sowie ein neu entdecktes Harmoniumwerk Franz Liszts. Die Titel lauten wie folgt: Ave maris stella [Meerstern, ich Dich grüße], S. 668a (die erste Fassung des zweiten Stückes der Zwei Kirchenhymnen, S. 669, siehe Volume 2); O sacrum convivium [O heiliges Gastmahl], S. 674a/ii (alternative Version, siehe Vol. 1); ‚Lento‘ausVia crucis, früher Entwurf von Station V, S. 669b (siehe Vol. 3); Der Papst-Hymnus, S. 261 (alternative Version, siehe Vol. 1); zwei frühere Fassungen von Angélus! Prière aux anges gardiens (siehe Vol. 2); Transkriptionen des Agnus Dei von Verdi und des Ave verum corpus von Mozart; L’Angélus‚Laclochesonne’[‚Die Glocke läutet’], S. 663c (für Harmonium [oder Klavier]). Anhand der frühen oder alternativen Fassungen kann man Liszts komplexes Kompositionsverfahren besser nachvollziehen. Viele, wenn nicht alle Stücke, sind Weltersteinspielungen für Harmonium.

Liszt vollendete die erste Fassung von Angélus (Den Schutz Engeln, S. 672c/i [Harmonium-/Orgelfassung von S. 162a/i]) am 27. September 1877 in Villa d'Este. Am Festtag der Heiligen Schutzengel (2. Oktober) änderte er das Stück leicht ab und überarbeitete es bald darauf am 15. Oktober erneut. Das Manuskript der ersten Fassung (heute in der British Library) enthält keine Angaben zur Instrumentierung. Sie ist jedoch eindeutig für Klavier oder Harmonium/Orgel vorgesehen, wie auch alle anderen Fassungen des Stückes. Liszt widmete die zweite Fassung (Aux anges gardiens [Den Schutz Engeln], S. 672c/ii [S. 162a/ii]) und die dritte Fassung (Angélus, S. 672c/iii [S. 162a/iii]) seiner Enkelin Daniela von Bülow, die es nach Liszts Worten „leicht auf dem Klavier spielen wird". Zwei Jahre später, im Jahre 1880, griff er das Werk in Siena wieder auf und änderte die Taktart von 3|4 auf 6|8 – eine bemerkenswerte Veränderung des Stückes (Angélus! Prière à l'ange gardien, S. 672c/iv [S. 162a/iv]). Diese Fassung hörte Pfarrer Hugh Regnald Haweis, der ständige Kurat von St. James' in Marylebone, als er Liszt besuchte. Haweis beschreibt dieses Ereignis in seinem Buch My Musical Life:

„Wissen Sie", sagte Liszt, zu mir gewendet, „man läutet den ‚Angelus‘ in Italien unbekümmert; die Glocken schwingen unregelmäßig und verstummen, und die Kadenzen werden daher oft unterbrochen:" Und er begann eine kleine wiegende Passage im Diskant – wie Glockengeläut, hoch oben in der Abendluft: Es hörte auf, aber so leise, dass der Halbtakt der Stille spürbar wurde, und das gespannte Ohr trug den unterbrochenen Rhythmus noch durch die Pause. Der Abbé selbst schien sich in einem Traum zu verlieren; seine Finger sanken wieder leicht auf die Tasten, die Glocken spielten weiter und hörten inmitten einer Phrase auf. Dann erhob sich aus dem Bass der Angelus, oder besser gesagt, es schien wie das vage Gefühl eines Menschen, der im Vorbeigehen aus den Ruinen eines Klosters am Wegesrand die Stimmen der alten Mönche hört, die ihre dunklen Melodien summen, während die Sonne schnell untergeht und sich die purpurnen Schatten Italiens aus dem goldgelben Westen über das Land schleichen!

Angélus wurde schließlich von Richard Burmeister, einem Schüler von Liszt, im Februar 1882 offensichtlich für die Veröffentlichung kopiert. Liszt änderte die Abschrift jedoch erneut ab, anstatt sie zu publizieren. Das Manuskript dieser Fassung (Angélus! Prière aux anges gardiens [Angelus! Gebet an die Schutzengel], S. 672c/v [S. 162a/v]) enthält viele Modifikationen, die schließlich eine weitere Abschrift zur Veröffentlichung erforderlich machten, an der Liszt vor der Herausgabe nochmals kleine Änderungen vornahm. Schließlich wurde der Angélus als erstes Stück der Années de Pèlerinage – Troisième année, S. 163 [S. 672c/vi; enthalten in Lars David Kellners Vol. 2] mit weiteren Verbesserungen des Werkes im Jahr 1883 veröffentlicht. Die endgültige Fassung wurde mit einem allegorischen Gemälde mit drei Engeln von Paul von Joukowsky veröffentlicht, die Liszts drei Enkelinnen darstellen: Daniela, Blandine von Bülow und Eva Wagner.

La cloche sonne, S. 663c [Harmoniumfassung von S. 238] galt seit seiner Erstveröffentlichung 1958 anhand eines Manuskripts im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar als Klavierstück, bis 2019 ein weiteres Manuskript bei Sotheby's auftauchte. Im Gegensatz zum Weimarer Manuskript, dem jegliche Spielanweisungen fehlen, enthält das Sotheby-Manuskript nicht nur Widmungs- und Aufführungshinweise, sondern auch die Instrumentierung des Stückes, Harmonium (ou Pianoforte), was bestätigt, dass es sich um ein echtes Harmoniumwerk handelt. Diese ausführliche Version wurde 2021 von der Liszt Society veröffentlicht. Bisher nahm man an, dass dieses Werk auf einem unbekannten französischen Volkslied basiert, aber die Angaben auf dem neu entdeckten Manuskript Mélodie de Madame la Baronne Amable de Béville legt nahe, dass die Baronin selbst die Melodie komponierte.

Verdi vollendete sein Requiem zum Gedenken an Alessandro Manzoni im Jahr 1874 und brachte es zur Uraufführung. Das Agnus Dei des Requiems faszinierte Liszt, weil es „in einzigartiger Weise den Worten ‚Apertis thesauris suis obtulerunt magi‘ in meinem Oratorium Christus [S. 3] ähnelt", wie es in dem Brief an Kardinal Gustav zu Hohenlohe heißt. Liszt transkribierte das Agnus Dei schließlich 1877 (Agnus Dei della Messa da Requiem di G. Verdi, S. 675c) für Orgel oder Harmonium ebenso wie für Klavier und veröffentlichte es im folgenden Jahr.

August Göllerich, ein Schüler von Liszt, spielte Liszts Fantasie über das Miserere von Allegri und das Ave verum corpus von Mozart (A la chapelle Sixtine – Miserere d’Allegri et Ave verum corpus de Mozart, S. 461ii) in Anwesenheit von Liszt. Göllerich erklärte später in seinem Buch, dass seine Aufführung Liszt dazu inspirierte, eine Orgel-/Harmoniumfassung des Ave verum corpus zu schreiben, welche eine Passage enthält, die nach Liszts Ansicht „eine der schönsten ist, die Mozart je geschrieben hat". Diese Transkription (Ave verum von W. A. Mozart, S. 674e) ist sein letztes Werk für Orgel/Harmonium.

김민규(Minkyu Kim), The Liszt Society