Lars David Kellner

Stefanie Harnisch: „Franz Liszts Œuvre – eine unerschöpfliche Quelle“

August 31, 2022

Booklet-Text zu Lars David Kellners neues Liszt Harmonium-Album.

Mit der Einspielung sämtlicher Werke, die Franz Liszt (1811–1886) für Harmonium solo geschrieben hat, verwirklichte Lars David Kellner in seinen Volumes 1–3 ein Desiderat. Dass die wissenschaftliche Erschließung, Edition und Dokumentation der Werke des Komponisten als Tonaufnahmen wiederum im Prozess und keineswegs abgeschlossen sind, bestätigen die von Kellner seither entdeckten Bearbeitungen und Fassungen, die nun von ihm im vorgelegten Volume 4 zu Gehör gebracht werden. Hauptfundus war dabei das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, das weltweit den größten Nachlass Franz Liszts an Notenmanuskripten bewahrt. Mit über 18.300 Blatt bietet dieser Bestand eine unerschöpfliche Quelle verschiedener Werkfassungen, die ein Spezifikum der Arbeitsweise Liszts erkennen lassen: die Gestalt einer musikalischen Idee aufzugreifen, um sie erneut um- und auszuformulieren. Häufig geben sie sich erst nach akribischen Recherchen zu erkennen, lassen dann aber die Textgenese umso deutlicher hervortreten. Exemplarisch steht dafür Kellners Ersteinspielung des Lento aus Via Crucis, einer frühen Fassung der Station V. Simon le Cyrénéen aide Jésus à porter sa croix.

Das im Goethe- und Schiller-Archiv überlieferte Manuskript von Franz Liszts Via Crucis (GSA 60/C 6; Searle 53) dokumentiert Liszts Wiederaufnahme eines Arbeitsprozesses, dem eine erste Fassung für Chor und Orgel vorausging. Das Titelblatt weist die Besetzung aus: Via Crucis. Les 14 Stations de la Croix: pour Choeur, Soli, avec accompagnement d’orgue (ou Pianoforte) composées par F. Liszt. Die Orgel- und Klavierbegleitung liegt in Simultannotation vor. Zu Beginn des einleitenden Hymnus Vexilla Regis (p. 2) sind genauere Angaben zur Besetzung angeführt, die das Titelblatt nicht preisgibt und die als stellvertretend für das gesamte Werk anzusehen sind: Orgel od: Harmonium. Die vollständig erhaltene Partitur ist eine Abschrift, die – so belegen es zwei Briefe Liszts vom 16. Oktober 1878 und 18. September 1879 (La Mara: Franz Liszt’s Briefe an die Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein. Theil 4. Leipzig 1902, pp. 234, 265) – von dem Pianisten und Dirigenten Hermann Dimmler (1843–1903) angefertigt wurde. Sie enthält zahlreiche Ergänzungen, Korrekturen sowie Überklebungen ganzer Passagen von Liszts Hand, ist vom Komponisten abschließend signiert (p. 69) und eigenhändig mit Orts- und Datumsangabe versehen worden: Budapest 26 Février 79. In seinem Avant propos (p. 71), das der Partitur als Abschrift in französischer Sprache nachgestellt ist, formuliert Liszt die Hoffnung, dass es eines Tages möglich sei, Kreuzwegstationen im Freien aufzustellen und durch ein mächtigesHarmonium (un puissant harmonium) zu bespielen, das die Chorgesänge unterstütze. Hier wird die Bedeutung des Instruments über die Orgel hinaus deutlich: Je serais heureux qu'un jour on y puisse entendre ces accen[t]s, qui ne rendent que trop faiblement l'émotion dont j'étais pénétré[e] lorsque plus d'une fois j'ai répété, agenouillé avec la procession pieuse (Ich wäre glücklich, wenn man dort eines Tages diese Akzente hören könnte, die nur allzu schwach die Rührung wiedergeben, von der ich durchdrungen war, als ich mehr als einmal mit der frommen Prozession niederkniend wiederholte): O! Crux Ave! Spes unica. Damit weist er auf den Wortlaut des Kreuzhymnus hin, der die Via Crucis zu Beginn und Ende einrahmt. Das Harmonium wird so nicht nur als emanzipiertes Instrument gleichwertig zur Orgel angesehen, sondern in diesem besonderen Falle als das zu bevorzugende verstanden.

Neben dem Avant propos enthält das vorliegende Manuskript auch mehrere unfoliierte eigenhändige Entwürfe Liszts, die der Partitur als Addenda beigelegt sind: Das erste Autograph ist mit Via Crucis betitelt. Als Tempoangabe ist Lento notiert, die in späteren Ausführungen in Andante geändert wurde. Der Notentext zeichnet drei Kreuze vor und ist formal ganz zu Anfang im Dreihalbe-Takt notiert. Offenbar entschloss sich Liszt noch während der Niederschrift dazu, für das Stück einen Zweihalbe-Takt anzuwenden. Dafür führte er diverse Streichungen im Manuskript durch, aktualisierte jedoch abschließend nicht seine Angaben zum Taktmaß. Diese Version wurde am 19. November in Pest niedergeschrieben, sehr wahrscheinlich im Jahr 1876, was auch die Datierung einer weiteren Skizze auf der Folgeseite (Villa d’Este 76) belegt. Es handelt sich hierbei um den bereits erwähnten frühen Entwurf in 22 Takten der Station V. Simon le Cyrénéen aide Jésus à porter sa croix, der durch Liszts finalen Doppelstrich formal eine gewisse Gültigkeit bekommt. Ein Vergleich dieser Fassung mit der bei Universal Edition Wien von Martin Haselböck veröffentlichten Ausgabe für Orgel (oder Harmonium) und dem Manuskript des Werks für Chor, Soli, mit Orgel- oder Harmoniumbegleitung (oder Pianoforte) zeigt, dass Liszt hier noch keine Einleitung der in Halben abwärts schreitenden Motivlinie vorsieht, sondern direkt mit den begleitenden Akkorden im Bassschlüssel beginnt und sogleich mit dem charaktergebenden repetierenden Ton d’ einsetzt. Die Harmonien verleihen der Melodie mit ihren wiederkehrenden Vorhalten einen klagenden Charakter, was im weiteren Verlauf durch die chromatisch absteigende Basslinie im ‚Passus duriusculus‘ noch verstärkt wird. Das Addendum enthält drei weitere autographe Skizzenblätter, die mit folgenden Titeln versehen sind: [1.] Via Crucis (Vexilla Regis) (p. 77), [2.] Via Crucis (Tempoangabe Lento) (p. 79) und ein letztes Blatt mit zwei Skizzen [3.] Via Crucis (p. 81), ebenfalls mit der Tempoangabe Lento versehen und datiert V[illa]. d’E[ste] [18]76 sowie ein weiteres Lento, datiert Weimar [18]77.

Liszts Via Crucis liegt in insgesamt vier Fassungen vor: Neben dem Chorwerk mit Orgel-/Harmonium- bzw. Klavierbegleitung (Searle 53) ist eine Fassung für Klavier solo (Searle 504a) und Klavier zu vier Händen (Searle 583) sowie die Orgel- resp. Harmoniumfassung (Searle 669b) überliefert. Lars David Kellner spielte letztere auf seinem Volume 3 der Harmoniumwerke Liszts ein. Die nun auf Volume 4 vorgestellte frühe Fassung des Lento der Station V. Simon le Cyrénéen aide Jésus à porter sa croix war bisher völlig unbekannt.

Die Bewahrung, Erschließung und Veröffentlichung des Nachlasses Franz Liszts ist eine der Hauptaufgaben des Goethe- und Schiller-Archivs. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Notenmanuskripten sowie mit Liszts Schriften und seinen Briefen ist auf dieser Grundlage überhaupt erst möglich. Darüber hinaus ist es vorrangiges Ziel, Handschriften institutionell zu erwerben und sie – sei es im Original oder in digitalisierter Form – der forschenden und musikausübenden Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Mit den Aufnahmen bisher ungehörter Fassungen setzt Lars David Kellner nicht nur die Gesamteinspielung der Werke Liszts für Harmonium konsequent fort und leistet auf diese Weise einen wertvollen Beitrag zu ihrem Verständnis, sondern lässt den oft höchst komplexen Entstehungsprozess auch unmittelbar erfahrbar werden.

Stefanie Harnisch, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar