Lars David Kellners Liszt-Harmonium-Projekt - Interview mit dem Künstler (Michael Straeter, DLG)
September 5, 2022
Franz Liszt und das Harmonium – Lars David Kellner im Gespräch
Michael Straeter | Herr Kellner, Sie sind ausgebildeter und mehrfach diplomierter Konzertpianist und können mittlerweile eine umfangreiche Diskografie an Klavierwerken vorweisen. Hier legen Sie nun Ihr Volume 4 mit Liszt-Werken vor – aber nicht für Klavier, wie man zuerst meinen könnte, sondern mit Werken für Harmonium. Sind Sie denn jetzt dem Klavier ‚abtrünnig‘ geworden? Oder woher kommt Ihre offensichtliche Vorliebe für das Harmonium?
Lars David Kellner | Meine Liebe für Tasteninstrumente beschränkte sich schon immer nicht nur auf das Klavier allein. Biographisch gesehen war das erste Instrument, mit dem ich in Kontakt gekommen bin, tatsächlich die Orgel. Selbst in pianistisch sehr intensiven Zeiten war die Orgel nie ganz im Hintergrund. In den letzten Jahren ist nun das Harmonium als Konzertinstrument für mich dazugekommen, und es begleitet mich mittlerweile regelmäßig zu meinen Konzerten.
Ich bin vor Jahren rein zufällig zum Harmonium gekommen: Irgendwo ist einmal eines herumgestanden und ich habe mich darangesetzt. Als Pianist ist man ja in der sonnigen Situation, dass man einen vernünftigen Anschlag hat und die Tasten auch in den Abständen sind, wie man es gewohnt ist. Aber dann muss man das Ding erst dazu bringen, überhaupt Töne von sich zu geben. Grundvoraussetzung hierfür ist das Treten der beiden Pedale. Mit ihnen erzeuge ich einen möglichst dosierten Windstrom für die Metallzungen im Instrument. Eine völlig andere Funktion der Pedale also als beim Klavier! Und ja – das ist schwer zu lernen! Man muss dann eigentlich völlig von vorne anfangen.
Und weil kein Harmonium wie das andere ist und auch die Literatur in sehr unterschiedliche Richtungen geht, muss man auf dem jeweiligen Instrument viel ausprobieren und auch durchaus erfinderisch sein, wenn man z. B. Werke von Liszt darauf wiedergeben will.
MS | Es gibt ja bekannte Spezialisten unter den Komponisten für das Harmonium, wie etwa Lefébure-Wély, Lemmens, Karg-Elert, wenn wir einmal nur im zeitlichen Umfeld von Liszt bleiben.
Würden Sie Liszt, der ja stets an Entwicklungen im Instrumentenbau interessiert war, auch als einen Spezialisten für das Harmonium bezeichnen?
LDK | Liszt setzt natürlich auch auf der Harmoniumtastatur ein gewisses Können voraus. Und er hatte ja auch Erfahrung mit der Registrierung auf der Orgel. Aber speziell beim Harmonium sieht man, dass er die Artikulation und das Atmen auf dem Instrument wirklich verstanden hat und gezielt einsetzt. Wenn Liszt für das Harmonium schreibt, dann meint er auch das Harmonium mit all seinen Eigenheiten. Er selbst hat ja auch einige derartige Instrumente besessen und damit gearbeitet, kannte also auch die Anforderungen und Möglichkeiten sehr gut. In Liszts Werken spielt die Phrasierung und die Artikulation eine große Rolle. Liszt hat in seiner Musik außerdem eine unglaubliche Palette an Klangfarben, das zieht sich durch vom Klavier bis in die Orchester- und Chorwerke. Und das alles versuche ich auch in mein Harmoniumspiel hineinzubringen.
MS | Was ist für Sie das Besondere am Harmonium, und insbesondere am Saugwindharmonium, auf dem Sie alle vier Volumes Ihres Liszt-Projektes eingespielt haben?
LDK | Ich habe im Laufe der letzten Jahre einige Harmoniums erwerben können und sie dann auch mit einem gewissen Aufwand herrichten lassen. Das ist immer ein bisschen wie eine Wundertüte – man weiß nie, was am Ende dabei herauskommt. Jedes Instrument klingt und reagiert anders. Bei dem einen Instrument passt vielleicht eher die weltliche Musik. Beim anderen sagt man: Ja, darauf kann ich mir sakrale Musik vorstellen.
Für meine Tonaufnahmen war mir ganz wichtig, ein Instrument zu haben, das ähnliche Vorzüge hat, wie man sie beispielsweise vom Klavier her kennt: Ich meine da die Variabilität in der Dynamik, die ich ja auf der Orgel in dieser Weise nicht habe. Beim Harmonium kann ich durch direkte Beeinflussung des Luftstroms und durch diverse Kniehebel die Lautstärke und den Klangcharakter variieren. Genauer gesagt: Ich kann den Ton, während er erklingt, formen – ganz ähnlich wie ein Sänger. Das ist für mich ein Hauptkriterium, warum sich die Werke von Liszt auf dem Harmonium so gut umsetzen lassen.
Wenn ich in Liszts Partituren schaue, dann sehe ich viele Angaben zur Dynamik: crescendo, descrescendo, ich lese sehr oft smorzando, das heißt verlöschend, ersterbend. Man kann beim Harmonium durch Versiegen des Luftstroms wunderbare Smorzandi machen.
Das Harmonium ist für mich musikalisch gesehen ein sehr wertvolles Instrument, speziell auch das Saugwindharmonium. Und natürlich: Wenn man so schöne Instrumente in seinem eigenen Fundus hat, schaut man, was es denn an Literatur gibt, die dafür in Betracht kommt. Wenn wir jetzt im deutschsprachigen Raum bleiben, gibt es natürlich außer Liszt noch Max Reger oder Sigfrid Karg-Elert. Reger hat sehr schöne Stücke für Saugwindharmonium geschrieben. Spätestens hier lernt man übrigens, ein richtiges Legato zu spielen (lacht). Auch Karg-Elert – der Name ist ja bereits gefallen – hat explizit für Saugwindinstrumente komponiert, ich denke da besonders an die Opera 103 und 104. Und die Harmoniumwerke von Franz Liszt, die ich jetzt im Rahmen dieses Projekts aufgenommen habe, sind aus meiner Sicht geradezu prädestiniert für diesen Instrumententyp.
MS | Obwohl viele große Komponisten [von Rossini bis Stockhausen] das Harmonium seit seiner Erfindung immer wieder besetzt haben, führt es in Konzert- und Gebrauchsmusik [der westlichen Welt] heute eher ein Schattendasein.
Hat das Harmonium ein Imageproblem?
LDK | Das Harmonium hat in der heutigen Zeit ein sehr schlechtes Image – leider! Viele Leute kennen Harmoniums, die im Keller oder am Dachboden ungenutzt herumstehen – teilweise seit Jahrzehnten. Spielt man darauf, dann klingen sie fürchterlich verstimmt – wenn sie überhaupt noch einen Ton von sich geben. Bei manchen sind die Gurte von den Schöpfbälgen gerissen und dann rührt sich gar nichts mehr. Solche Instrumente machen es einem nicht leicht, Sympathie für sie zu empfinden.
Dann gab es noch dazu damals vor 100 Jahren relativ viele einfache Harmoniums mit einer sehr überschaubaren Disposition und entsprechend reduzierten klanglichen Möglichkeiten.
Gerade das Saugwindharmonium war wegen seiner gegenüber dem Druckwindinstrument einfacheren und preiswerteren Bauweise weiter verbreitet und wurde etwas abschätzig betrachtet oder links liegen gelassen, auch von einigen Komponisten.
Und so kam es, dass das Harmonium mehr und mehr ins Abseits geraten ist. Aber seit einiger Zeit erlebt es in Fachkreisen eine gewisse Renaissance, gottseidank!
MS | Wo liegen die Klangunterschiede des Harmoniums zum Klavier oder zur Orgel?
LDK | Der entscheidende Unterschied zur Orgel ist die Variabilität der Dynamik.
Bei der Orgel ist die Lautstärke eines Tons durch Mensur, Register und festen Winddruck festgelegt, ich kann sie höchstens durch ein leiseres Register oder durch Abdecken verringern.
Beim Klavier habe ich vor allem den Anschlag und die Pedale, um den Ton innerhalb einer gewissen dynamischen Skala zu verändern.
Beim Harmonium habe ich ebenfalls mehrere Register, zwar nicht so viele wie bei der Orgel, aber kräftigere und schwächere, die ich kombinieren kann. Vor allem aber kann ich den Windstrom der Bälge auf verschiedene Weise steuern, bis auf Null herunter, zum völligen Versiegen. Das ist das Besondere.
Mit anderen Worten: Die Lautstärke ist fließend veränderlich. Ich kann stufenlos crescendieren und wieder ein Diminuendo machen.
Bei den Harmoniums gibt es ja zwei verschiedene Arten von Systemen: Es gibt das Druckwindsystem, bei dem der Luftstrom im Instrument nach außen gerichtet wird; und es gibt das Saugwindsystem, wo der Luftstrom von außen nach innen gerichtet ist, also genau anders herum. Die Klangcharakteristik ist entsprechend unterschiedlich: Bei den Druckwindharmoniums ist es eher ein härterer, brillanterer, extrovertierter Klang und bei den Saugwindinstrumenten ist es eher ein verinnerlichter, verschmelzender, weicherer Klang. Die Lager zwischen den Druckwind- und Saugwindanhängern sind durchaus gespalten. Viele Harmoniumspieler können mit Saugwindharmoniums nicht unbedingt viel anfangen, weil die Vorzüge des Instruments – trotz seiner ehemals großen Beliebtheit – etwas mehr im Verborgenen liegen. Ich habe mich aber bewusst für diesen Instrumententyp entschieden, weil Liszts Musik eine sehr sangbare ist. Das heißt, bei der Wahl des Instruments war es mir wichtig, viele sanfte Schwebestimmen zu haben, die die Klangcharakteristik der menschlichen Stimme imitieren. Daher also die Wahl des sechseinhalbspieligen Mannborg Saugwindinstruments (Disposition anbei).
MS | Einige der von Ihnen eingespielten Stücke finden sich in Sammlungen der Orgelwerke von Franz Liszt, manche auch bei seinen Klavierwerken. Welche Herausforderungen stellen sich einem Musiker, der die kompletten Harmoniumwerke von Franz Liszt einspielen möchte?
LDK | Vielleicht eines vorab: Tatsächlich habe ich zu den bisher erschienenen, gar nicht so seltenen ‚Gesamteinspielungen‘der Lisztschen Orgelwerke – im Umfang von 2, 3, 4, manchmal 5 Platten – eine eher kritische Haltung.
Offenbar tut sich die Fachwelt ja schon schwer damit zu definieren, was Liszts ‚gesamte‘ Werke für Orgel überhaupt sind. Welche Stücke gehören dazu, welche nicht? Im Zweifelsfall lohnt sich da immer ein Blick in die Partitur. Liszt ist in der Regel sehr genau mit seinen Bezeichnungen, wenn er bei der Instrumentierung zum Beispiel schreibt: ‚Für Klavier oder Harmonium‘. Diese Angabe ist für mich als Instrumentalsolist absolut bindend. Solche Stücke gehören aus meiner Sicht nicht auf eine Orgel.
Überhaupt stellt sich mir ganz grundsätzlich die Frage: Ist die Wahl einer großen Kirchen- oder Konzertorgel für die Darstellung der doch oft sehr verinnerlichten, zarten Musik Franz Liszts tatsächlich immer angemessen? Es gibt natürlich drei, vier monumentale Orgelwerke, die immer auf eine große Orgel gehören. Aber für den Rest der Werke sollte man sich genau überlegen, worauf man sie tatsächlich spielt.
Meines Wissens hat es bisher noch niemand unternommen, einmal aus der Sicht des Harmonisten nach den Werken zu suchen und sie in ihrer Gesamtheit einzuspielen. Für mich war das die große Herausforderung, die sich mir stellte. Meine Aufgabe bestand dann darin, Quellenstudium zu betreiben und in Liszts riesengroßem Œuvre (es gibt ja 700 Werke von ihm oder mehr, je nach Zählweise) die zum Teil doch sehr zerstreut liegenden Manuskripte und Drucke, die für das Harmonium verfasst sind, aufzufinden und in einem Zusammenhang darzustellen.
MS | Auf der Suche nach Liszts Werken für Harmonium sind Sie, wie diese Einspielung beweist, auf eine Reihe noch wenig bekannter, nicht eingespielter Fassungen gestoßen. Setzen Sie Ihre Entdeckungsreise auch künftig fort?
LDK | In der Tat hatte meine Suche nach Werken und Manuskripten von Liszts Œuvre für Harmonium einige Überraschungen parat. Ich freue mich immer, wenn ich Werke als Premiere einspiele, das ist für mich jedes Mal ein aufregendes Gefühl. Man betritt musikalisches Neuland.
Hervorragend unterstützt worden bin ich bei meiner Arbeit von Evelyn Liepsch und Stefanie Harnisch vom Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar und auch von Minkyu Kim von der British Liszt Society. Dafür bin ich sehr dankbar!
Natürlich hoffe ich, noch auf das eine oder andere Fundstück zu stoßen (oder gestoßen zu werden), der Kontinent Liszt ist ja noch lange nicht vollständig vermessen. Insofern muß man den Begriff ‚Gesamteinspielung‘ tatsächlich auf das Hier und Jetzt beziehen und hoffen, dass vielleicht bald wieder etwas Neues ans Tageslicht kommt. Bei Liszt weiß man das nie!
MS | Das Harmonium verwendet Liszt ja hauptsächlich erst in den religiös motivierten Werken seines letzten Lebensdrittels, also als erfahrener und gereifter Komponist. Welche Gründe sehen Sie dafür?
LDK | Den Werken von Liszt sagt man ja allgemein nach, dass sie mitunter etwas überladen sind und eher techniklastig. Das trifft für sein Spätwerk sicherlich nicht zu. Es ist eine sehr ehrliche und eine weitgehend kontemplative, stark verinnerlichte Musik. Natürlich gibt es da auch die eine oder andere virtuose Passage und extrovertierte Werke, mitunter auch beschwingte und locker-leichte Stücke, ich denke da etwa an Teile der Weihnachtsbaum-Suite. Aber der Großteil dieser Stücke sind tatsächlich eher ruhig und meditativ nach innen gerichtet.
Die Frage, die sich mir hier stellt: Was mache ich mit diesem minimalistischen, oft schwer zugänglichen Spätwerk? In welchen Rahmen gehören diese Kompositionen?
Sie gehören, denke ich, nicht unbedingt in den Konzertsaal, da erwartet man vielleicht glänzende, extrovertierte Stücke. Sie gehören definitiv nicht in den Salon – wenn es den noch gibt (lacht), dafür sind sie zu religiös. Sie gehören aber auch nicht – wenigstens die allermeisten der Instrumentalwerke nicht – in eine große Kirche auf eine Orgel mit drei Manualen und 50 klingenden Registern. Dafür sind diese Werke zu intim und zu introvertiert. Ich denke, dass tatsächlich der geeignete Rahmen eine kleine Kirche oder eine Kapelle ist. Und ein Instrument, das zwar einen orgelartigen Klang hat, aber keine große Orgel ist – sondern eben das Harmonium, das Liszt ja auch häufiger besetzt. Und auf dem Harmonium habe ich natürlich dann all die bereits erwähnten klanglichen und dynamischen Ausdrucksmöglichkeiten, die ich in meinen Einspielungen darzustellen versuche.
Die Harmoniumwerke im Rahmen dieses Projekts sind alles Spätwerke, d. h. nach dem Jahr 1861 entstanden. Liszt ist da 50 Jahre alt. Bedauerlicherweise hat es zu dieser Zeit in seinem Leben einige Krisen gegeben: Zwei seiner Kinder sind verstorben und eine seit vielen Jahren geplante Hochzeit hat sich zerschlagen, was dann tragischer Weise auch gleichzeitig das Ende der Beziehung war. Solche Ereignisse verändern einen Menschen. Liszt ging nach Rom, empfing die niederen Weihen und hat sich als Abbé deutlich von seinem früheren Leben distanziert. Das spiegelt sich natürlich auch in seinem Kompositionsstil wider: Das Virtuose und Überschwängliche, was man von den Liszt-Werken bis dahin kannte, ist da aus seinen Spätwerken verschwunden. Diese Werkeweisen eine Konzentriertheit und eine Reduktion der musikalischen Mittel auf das Notwendige auf, die wirklich ganz frappant ist. Wenn man die Partitur mancher dieser Stücke aufschlägt, fragt man sich, wie die Musik mit so wenig Noten funktionieren kann. Aber sie funktioniert eben, weil das Entscheidende zwischen den Noten stattfindet.
Die große Gefahr ist natürlich, dass das extrem Reduzierte am Ende banal klingt. Man kann ja manche dieser späten Stücke sogar vom Blatt spielen. Aber den musikalischen Geist zu erahnen, ihm nachzuspüren und dann auf die Tasten zu bringen, das ist die große Herausforderung.
Aufmerksam geworden auf das Spätwerk von Liszt bin ich vor vielen Jahren durch die Via Crucis. Ich kann mich noch genau erinnern: Ich habe in die Partitur geschaut und mir dann gedacht: ‚Mensch, so wenig Noten!? Wie spielt man das überhaupt? Wie kann da so etwas wie ein musikalischer Bogen reinkommen?‘ Aber wenn man sich in das Werk hineinversetzt, dann sieht man: ‚Ja, das geht!‘ Liszt hat schon ganz genau gewusst, was er da schreibt.
Man muss sich einmal vorstellen: Franz Liszt, der Tastenvirtuose, das von Beethoven geküsste Wunderkind, der international gefeierte Star, der einflussreiche Propagandist Beethovens, Schuberts und Wagners, versucht auf seine alten Tage – nach persönlichen Schicksalsschlägen und der weitgehenden öffentlichen Ablehnung seines neuen eigenen Werks – tatsächlich noch einmal, musikalisch eine andere Richtung einzuschlagen, einen neuen Weg zu gehen ... Ich glaube, dass man diese kompromisslose und mutige Haltung nicht genug würdigen kann!
Letztendlich muss man wohl sagen, dass Liszt in den 1870er und 1880er Jahren seiner musikalischen Zeit um Dekaden voraus war. Wir hören da bei ihm eine tonale Sprache mit Harmonien, die nicht aufgelöst, sondern nebeneinander gestellt werden. Wir hören Ganztonskalen, wir hören eine diffizile Chromatik, wir hören musikalischen Minimalismus. Also alles Techniken, die uns eigentlich erst Jahrzehnte später beispielsweise im Impressionismus begegnen. All dem hat Liszt bereits vorgegriffen. Es ist natürlich klar, dass eine so innovative Musik Liszts Zeitgenossen verstört haben muss.
Um beim Beispiel Via Crucis zu bleiben: Es hat, glaube ich, 50 Jahre gedauert, bis das Werk überhaupt uraufgeführt wurde. Liszts Instrumentalversion ist im Notendruck tatsächlich erst 100 Jahre später – in den 1970er Jahren – erschienen. Und jetzt erst, mit 140, 150 Jahren Verspätung, erfährt diese Via Crucis eine Art Auferstehung und wir sehen überall die Aufführungen aus dem Boden sprießen. Ähnliches gilt ja auch für Liszts monumentales Oratorium Christus, in dem übrigens das Harmonium auch gefordert ist. Ich finde das toll, aber gleichzeitig ist es natürlich erschütternd, dass das erst so spät stattfindet.
MS | Liszts typische Arbeitsweise als Komponist ist ja die fortgesetzte Überarbeitung, Veränderung, Neufassung von Material und Werk. Diese Arbeitsweise verändert den Charakter eines Stücks von Version zu Version ja mitunter grundlegend. [Beispiele wären da etwa die Angelus!-Kompositionen.]
Was fordert Sie als Musiker, als Interpret daran heraus?
LDK | Ja, auch in dieser Hinsicht war Liszt sehr innovativ ... Bei ihm weiß man nie, ob ein Werk tatsächlich fertig und abgeschlossen ist. Die vielen, teilweise ja über sehr lange Zeiträume entstandenen Skizzen und Fassungen lösen ein Werk oft mehr in einen Arbeitsprozess auf, statt in eine autorisierte endgültige Fassung.
Es ist für einen Interpreten dann sehr erkenntnisreich, diesen Weg, diese Suche nach immer neuen Möglichkeiten mitzugehen; gleichzeitig verändert das aber auch die Weise, in der man mit den eigenen Interpretationen umgeht. Diese behalten dadurch sozusagen auch immer etwas Vorläufiges, Suchendes. Jede Fassung, jede Skizze eines Liszt-Werks hat ja ihr Besonderes, das will man herausfinden und den anderen gegenüberstellen. Eine wirklich tolle Arbeit, die sich, glaube ich, gar nicht abschließen lässt. Da bleibt viel offen und damit muss man leben bei Liszt.
MS | Warum haben Sie sich – gewissermaßen trotzdem – an dieses umfangreiche Projekt gewagt?
LDK | Vor einigen Jahren habe ich das tastenReich®-Ensemble gegründet, dessen Mission es ist, Musik für besondere Tasteninstrumente und deren originale Werke auf das Podium zu bringen. Auch wenn ich hier jetzt als Solist unterwegs bin, ist das Projekt aus genau diesem Geist heraus entstanden.
Und dann waren die letzten zwei Jahre natürlich für uns Künstler gravierend beeinträchtigt von der Pandemie. Alles wurde plötzlich zu einem Stillstand gebracht. Ich habe aus der ‚verordneten‘ Ruhe eine Tugend gemacht und die Stille zu einer eingehenden Innenschau genutzt. Und da kam mir die Harmoniummusik Franz Liszts genau recht.
Insofern hoffe ich, dass ich mit meinen Einspielungen ein Publikum erreiche, das sich dieser besonderen Musik auf einem sehr speziellen Instrument gegenüber öffnet. Es kann, wie ich meine, tatsächlich tröstlich oder vielleicht sogar heilsam sein, sich auf die atmende Stille dieser Werke einzulassen, und auf dieses schöne Konzertinstrument, das unter diesen wunderbaren akustischen Bedingungen – wie in meinen Aufnahmen hörbar – erklingt.
MS | Bekommt man Sie denn nun auch wieder live zu sehen und zu hören? Ich glaube, Sie sind ja auch ein Reisender in Sachen Harmonium ...
LDK | (lacht) Ja, das ist richtig, meine Harmoniums sind schon viel herumgekommen, vor allem das Mannborg-Instrument war schon oft im Lieferwagen …
Ja, ich werde mit meiner Harmoniummusik jetzt, wo die Pandemie sich doch abzuschwächen scheint, wieder häufiger öffentlich, vor allem im Süddeutschen Raum, zu hören sein.
Für Enthusiasten gibt es natürlich auch meinen YouTube-Kanal, selbstverständlich ist auch da viel Liszt dabei.
Und dann gibt es demnächst auch ein ausführliches Video zu meinem Liszt-Harmonium-Projekt.
Ich freue mich natürlich immer über viele Besucher, sei es im Netz oder bei meinen Konzerten.