Stefanie Harnisch: "Franz Liszts Werke für Mezzosopran & Harmonium und ihre Quellen"
July 12, 2023
Die hier vorgelegten Aufnahmen von sakralen Gesangswerken für Solostimme und Harmonium stellen die konsequente Umsetzung eines bemerkenswerten Kompositionsprinzips von Franz Liszt dar: die musikalische Idee nicht nur in einer Fasson festzuschreiben, sondern offen zu sein für weitere Dimensionen musikalischer Ausdrucksformen. Damit einher geht – vor allem in Bezug auf Liszts Spätwerk - eine oft recht freie Form der Instrumentierung. Der Komponist möchte hier expressis verbis sein Werk nicht mehr an nur ein bestimmtes (Tasten-)Instrument gebunden wissen, sondern weist Klavier, Orgel oder Harmonium gleichberechtigte Rollen für den musikalischen Vortrag zu.
Sämtliche der hier vorgestellten Liszt’schen Kompositionen liegen bereits auf Tonträger vor, allerdings fast ausschließlich mit Verwendung der Orgel oder des Klaviers als Begleitinstrument. Dem Harmonium wurde bis dato in Einspielungen nur unzureichend Tribut gezollt. Die beiden Künstler wollen nun in Form dieses Albums durch die Einbeziehung eines Saugwindharmoniums als Begleitinstrument zur Singstimme dieser bemerkenswerten interpretatorischen Lücke Rechnung tragen.
Mit über 18.300 Blatt liegt der weltweit größte Nachlass an Notenmanuskripten Franz Liszts im Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar. Den Protagonisten des hier vorgestellten Albums diente es für die Mehrzahl ihrer Stücke als bedeutsamer Fundus. Als Peter Raabe, Kustos des Liszt-Museums in Weimar, in den Jahren 1910 und 1911 die Vielzahl an Manuskripten ordnete und katalogisierte, stieß er auf insgesamt 32 fast ausschließlich geistliche Kompositionen für Gesang – zumeist für Chor – mit Orgel- oder Harmoniumbegleitung. Darunter befinden sich allerdings nur vereinzelt autographe Entwürfe und Stichvorlagen für Sologesang mit Begleitung wie etwa O sacrum convivium, Ave Maris Stella für eine Singstimme und Harmonium und Ave Maria für Mezzosopran und Orgel oder Harmonium.
Die beiden Quellen zu den Stücken Le Crucifix und Sancta Caecilia befinden sich nicht in Weimar, sondern in Nürnberg und Paris.
Das laut Peter Raabe in Liszts späten Lebensjahren entstandene Werk für Gesang und Orgel O sacrum convivium (S. 58) wurde erstmals von Philipp Wolfrum 1936 in der Carl Alexander-Ausgabe in Leipzig herausgegeben. Diese Edition stützte sich vor allem auf die im Goethe- und Schiller-Archiv überlieferten undatierten Partituren der Quelle GSA 60/C 7. Die vier Blatt umfassende autographe Quelle (GSA 60/C 22) im Allabreve gibt „Contra-Alt[-Solo], [Mezzo]Sopran und [Alt-]Chor [(ad libitum)]“ sowie als Begleitung „Harmonium“ an. Unter den Titel notierte Liszt in französischer Sprache den Hinweis, dass es zu kopieren und im 4/2-Takt zu drucken sei. Genau diese Anweisung wurde schließlich in der dem Autograph folgenden Abschrift mit autographen Anmerkungen (GSA 60/C 7) umgesetzt. Diese weist zahlreiche Radierungen, aber auch Streichungen mit der für den Werkprozess charakteristischen Wahl des Rot- und Blaustifts auf. Auch dieser Fassung liegt die identische Besetzung zugrunde, jedoch mit der Ergänzung „Harmonium (ossia Organo)“. Vergleicht man beide Fassungen, unterscheiden sich die Tempoangaben deutlich voneinander: Ist in der früheren „Lento, ma non troppo“ angegeben, weist die spätere Fassung die Bezeichnung „Andante, con divozione“ – mit Hingabe, Andacht – auf. Beigefügt sind der Abschrift vier ausschließlich autographe Seiten mit Korrekturen dieser Komposition, die sich anhand der eigenhändigen mit Rotstift markierten Seitenangaben den zuvor von Liszts Hand vorgenommenen Streichungen genau zuordnen lassen. Dass Liszt auch dieses Stück in einer Alternativfassung für Harmonium (oder Orgel) solo (S. 674a/ii) vorsah, belegt nicht nur das mit „Organo vel Harmonio (solo)“ überschriebene, dem Manuskript beigefügte Korrekturblatt, sondern auch eine weitere Kopistenabschrift, die auf der im Goethe- und Schiller-Archiv überlieferten Vorlage beruht. Sie befindet sich in der Staatsbibliothek zu Berlin (Mus. ms. autogr. Fr. Liszt 15). Ihr Titel O sacrum convivium – / per Organo, ossia Harmonium solo sowie die Angabe „Andante, con divozione“ zu Beginn und auch die Metronomangabe (50) wurden eigenhändig hinzugefügt. In dieser Abschrift, die nicht nur in Tempo- und Ausdrucksangabe identisch ist, werden darüber hinaus auch die Fingersätze exakt übernommen. Diese Quelle ist Zeugnis eines ebenfalls fortwährenden Arbeitsprozesses, auf den sich der Komponist immer wieder neu einließ. Das dokumentieren die Abänderungen und Streichungen von Liszts Hand mit Rotstift. Jene Fassung spielte Lars David Kellner bereits in seinem Volume 4 des Harmoniumgesamtwerks als Premiere für Harmonium ein.
Es gehört zu Liszts bemerkenswerten Kompositionsprinzipien, die Wahl des begleitenden Instruments gelegentlich offen zu lassen. So kann sich der Interpret häufiger etwa zwischen Klavier-, Orgel- oder Harmonium als Begleitinstrument entscheiden. Dagegen legte Liszt bei Ave Maris Stella(S. 680) die Besetzung fest und entschied sich bewusst für das Harmonium. Diesem Stück liegt musikalisch das gleichnamige Chorwerk (S. 34b) zugrunde, das in zwei Fassungen überliefert ist. Die erste Niederschrift (für gemischten Chor und Orgel) entstand 1865 oder 1866. Nach der Einschätzung von Peter Raabe hatte Liszt diese verloren, weshalb er 1868 eine weitere, allerdings für Männerchor und Orgel komponierte, die zugleich als zweite Fassung anzusehen ist. Beide Versionen sind im Goethe- und Schiller-Archiv als Druck mit zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen und Korrekturen versehen: In der Ausgabe der Neun Kirchenchorgesänge bei C. F. Kahnt, erschienen Leipzig 1871 (GSA 60/C 19,1) bzw. der Zwölf Kirchenchorgesänge mit Orgelbegleitung (GSA 60/C 19,2), erschienen 1882 ebenfalls bei C. F. Kahnt in Leipzig. Die Fassung für Männerchor und Orgel nutzte Liszt als Grundlage für die Erarbeitung der Version für Singstimme und Harmonium. Ihre handschriftliche Quelle ist ebenfalls im Goethe- und Schiller-Archiv (GSA 60/C 19) überliefert. Das Manuskript wurde von fremder Hand mit „Franz Liszt. Weimar 1882“ übertitelt. Das zwei Blatt umfassende Manuskript weist den Charakter verschiedener Quellarten auf: Es vereint entwurfähnliche, skizzenhafte und fragmentarische Aufzeichnungen, die wohl eher eine Gedankenstütze des Komponisten bildeten, als dass sie eine als Reinschrift vorgesehene Druckvorlage waren. So ist die Gesangsstimme nur in den ersten sechs Takten ausgearbeitet, wobei anzunehmen ist, dass sich diese in ihrer weiteren Gestalt wohl am Chorsatz orientiert haben dürfte; das Hinzufügen des Textes ausschließlich in den ersten vier Takten ersetzt den Titel. Die Takte 12 bis 22 sind nummeriert mit Taktzahlen versehen, sodass Liszt die Nummern auf der Vorderseite des zweiten Blattes als wiederholendes Element in die leeren Takte einsetzen konnte, ohne noch einmal ausnotieren zu müssen. Lediglich die Begleitung erscheint in vollständiger Form. Zudem enthält das Manuskript keinerlei Korrekturen oder Umarbeitungen. Es handelt sich somit offensichtlich um eine flüchtige Niederschrift, bei der die Dynamik-, Tempo- und Ausdrucksangaben noch gänzlich fehlen.
Beim Ave Maria(S. 681) scheint die Werkgenese ähnlich: Auch dieses Stück für Gesang und Orgel oder Harmonium mag auf die gleichnamige Fassung für vierstimmigen gemischten Chor und Orgel (S. 38) zurückzuführen sein. Sie entstand am 3. Oktober 1869 in Madonna del Rosario in Rom, was Liszts eigenhändige Orts- und Datumsangabe auf der im Goethe- und Schiller-Archiv überlieferten autographen Quelle (GSA 60/C 12e) bezeugt. Hier fehlt noch die charakteristische viertaktige Einleitung der über dem Orgelpunkt A sich aufbauenden in vollen Takten voranschreitenden Harmonien, bis die Tonika D-Dur in Takt 5 erreicht wird; eine zwar nicht von Liszt selbst stammende exakte Abschrift des Chorwerks (GSA 60/C 25) weist die Einleitung aber bereits auf. Liszt autorisierte diese durch eigenhändige Angabe von Titel, Besetzung sowie Entstehungszeitraum, „Octobre 69. Rome“ undUnterschrift. Es folgt ein Blatt in gleicher Papiersorte- und Qualität, das in gleicher Handschrift die Version für „Voce (Mezzo Soprano)“und Orgel- oder Harmoniumbegleitung festhält. Die Angabe von Stimmgattung und Titel sowie die Unterschrift am Ende des Manuskripts stammen wiederum von Liszt selbst. Auch ohne Datierung kann davon ausgegangen werden, dass es in einem Arbeitsgang mit dem Chorwerk 1869 entstand. Das letzte Blatt des Manuskripts komplettiert auf gleiche Weise die Werksammlung: Auf zwei Seiten ist eine Fassung für Klavier oder Harmonium notiert. So ist die Entstehungsgeschichte beider Konvolute (GSA 60/C 12 und GSA 60/C 25) prinzipiell gut vergleichbar; die autographen Werkmanuskripte für Gesang und Harmonium oder Orgel (GSA 60/C 12f) sowie für Klavier oder Harmonium solo (GSA 60/C 12c) und der jeweiligen Reinschriften von fremder Hand, die keinerlei kompositorischen Eingriff Liszts erkennen lassen, schließen sich hier an die Chorfassung an. Als Entstehungszeitraum weist auch diese Klavier- bzw. Harmoniumversion in Liszts Handschrift den Oktober 1869 aus. Der Rückschluss, dass Liszt die Niederschriften im Anschluss daran wiederum reinschreiben ließ und einer Revision unterzog, dokumentiert die Quelle GSA 60/C 25. Lars David Kellner beschäftigte sich bereits solistisch ausführlich mit eben jenem Stück: Auf dem ersten Album seines „Liszt-Harmonium-Projektes“ erschien die Endfassung der Harmoniumversion (S. 667c) des Ave Maria. Auf dem fünften Volume wiederum wird die Erstfassung als Premiere zu hören sein. Die Einspielung des Stückes für Gesang und Harmonium bildet so – bereichert um die stimmlichen Klangqualitäten von Idunnu Münch – das breite Spektrum von Liszts Gestaltungswillen als Meister unterschiedlicher Werkgruppen ab.
Die einzige autographe und überhaupt überlieferte Handschrift von Sancta Caecilia(S. 343)für Altstimme mit Orgel- oder Harmoniumbegleitung befindet sich heute in der Bibliothéque nationale de France, Paris (Ms. 165). Auch dieses Arbeitsmanuskript weist wieder die bereits erwähnten typisch Liszt’schen Korrekturen mit Rot- und Blaustift auf. Die zwei ineinander gefügten Doppelseiten der Notenhandschrift sind in eine Lage eingefügt, die das Titelblatt bildet. Der Pianist, Komponist und Dirigent Karl Goepfart fertigte dieses Titelblatt an und gab so wichtige Hinweise zur Provenienz: Er eignete es 1890 in Weimar dem für die Komponisten der Neudeutschen Schule wichtigen Publizisten Richard Pohl zu. Goepfart selbst gehörte zum Weimarer Kreis um Franz Liszt. Wie genau er in den Besitz des Manuskripts kam – vielleicht ein Geschenk des Komponisten – ist unbekannt. Auf diesem Wege muss es zunächst über Pohl in die bedeutende und umfangreiche Autographensammlung des französischen Musikwissenschaftlers und Komponisten Charles Malherbe und an das Pariser Konservatorium gekommen sein. Noch 1968 lokalisiert Felix Raabe dort die Urschrift, wie die von ihm überarbeitete Ausgabe des Bandes Liszts Schaffen, verfasst von seinem Vater Peter Raabe, zeigt.
In der Editio princeps aus dem Jahr 1884 (C. F. Kahnt, Leipzig) wurden die drei Versionen von Le Crucifix. Poesie de Victor Hugo (S. 342) für eine Frauenstimme (Alt) und Klavier (oder Harmonium) bewusst mit dem französischen Untertitel Composée pour une voix de femme (contre alto) avec accompagnement de Piano (ou Harmonium) par Franz Liszt. (Trois versions musicales.) veröffentlicht. Zunächst scheinen die Kompositionen aus dem gleichen Jahr der Erstveröffentlichung zu stammen, was auch Peter Raabe aufgrund eines Briefes von Liszt vom 15. Dezember 1884 aus Rom an den von ihm zutiefst bewunderten Textdichter annimmt: „Ce qu’on entend sur la montagne et Mazeppa: comme aussi plusieurs de vos chansons d’amour, et récemment votre adorable Crucifix […].“ („[…] Wie auch viele Ihrer Liebeslieder und kürzlich Ihr anbetungswürdiges Crucifix [...]“; La Mara (Hrsg.): „Franz Liszts Briefe.“ 8. Bd. 1823–1886. Leipzig 1905). Für die Edition der drei Stücke in der sog. Carl-Alexander-Ausgabe (Leipzig 1936 bei Breitkopf & Härtel) lag laut Herausgeber-Bericht von Philipp Wolfrum keine handschriftliche Quelle zum Abgleich vor – es wurde nach der Erstausgabe zitiert. Bis heute fehlen Quellen der ersten und zweiten Version. Lediglich ein Manuskript der dritten Version ist in der Sammlung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg überliefert (Hs 107023[2]). Das zwei Blatt umfassende Autograph spiegelt mit seinen Korrekturen, Überklebungen und zahlreichen Streichungen in Rot lebhaft eine quasi flüchtige Momentaufnahme des von immerwährenden Umarbeitungen geprägten Schaffensprozesses wider. Bemerkenswert ist das extra System, das Liszt für die deutsche Textübersetzung („Ihr, die weint [...]“) vorsieht, scheint er doch damit die Gleichgewichtung beider Sprachen in der Ausführung betonen zu wollen. Rein formal würde ein Notat der Übersetzung über oder unter der Melodiestimme nur einer Ausdrucks- und Verständnishilfe gleichkommen. Dass die dritte Version – und damit wohl auch die anderen beiden – in jedem Fall bereits 1881 entstanden sind, kann durch das Autograph nun als sicher gelten, denn der Komponist hält auf der letzten Seite „Novembre Rome, 81“ fest.
Lars David Kellner ist bekannt für die Neuentdeckung und Ersteinspielung zahlreicher Werke sowie für seine Veröffentlichung des Harmoniumgesamtwerks von Franz Liszt. Trat Kellner dabei bislang vor allem solistisch in Erscheinung, so nimmt er sich nun gemeinsam mit der Mezzosopranistin Idunnu Münch eines Desiderats der Musik für Gesang und Harmonium an. Die auf diesem Album präsentierten Werke stellen eine musikalische Rehabilitation des Harmoniums dar und beweisen, warum ihm auch große Komponisten den Rang eines vollwertigen Tasteninstruments zukommen lassen.