Textbeitrag zu Lars David Kellners Album mit Idunnu Münch
Der Leipziger Komponist Sigfrid Karg-Elert (1877-1933) zählt zu den bedeutendsten Komponisten für Harmoniummusik. Sein Oeuvre für dieses Instrument ist enorm und zudem untrennbar mit dem Verlag Simon in Berlin verbunden. Kennengelernt hatten sich Karg-Elert und Carl Simon im Jahre 1904 in Berlin. Der Kontakt kam vermutlich durch die Vermittlung des Verlags Robert Forberg (Leipzig) zustande, bei dem Karg-Elert im gleichen Jahr sein Op. 10, die Sechs Skizzen für Harmonium, publiziert hatte. Dies war die erste selbständige Veröffentlichung eines seiner Werke. Bis dahin hatte der junge Komponist lediglich in der Zeitschrift Musik-Woche kleinere Musikbeilagen publiziert, darunter im Jahr 1902 seine Arabeske Op. 5 für Klavier.
Die Zusammenarbeit mit dem Verlag Simon war äußerst fruchtbar: Bis zum Jahre 1914 wurden ca. 150 Kompositionen und Sammlungen veröffentlicht, knapp 100 davon sind Werke für Harmonium-Solo oder Harmonium-Kammermusik. In den ersten Jahren der Zusammenarbeit zwischen Karg-Elert und Simon lag der Fokus eindeutig auf Harmonium- und Kunstharmonium-Kompositionen, jedoch gingen auch immer wieder einzelne Stücke als Bearbeitungen für Orgel in Druck. Karg-Elert verschlang förmlich das gesamte Verlagsprogramm Simons (und auch weiterer Verlage) bei der Suche nach geeigneten Stücken, die er für das Harmonium bearbeiten konnte. Am Ende werden es über 530 Bearbeitungen und Transkriptionen von Werken anderer Komponisten sein. Die Zeit des Ersten Weltkriegs bedeutete einen Einschnitt in der Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Verleger. Von 1915 bis 1918 kam es lediglich zu 6 Veröffentlichungen. Der Krieg war aber nicht der alleinige Grund für das Abflauen der Verlagsbeziehungen. Auch inhaltliche Differenzen entfernten die Partner immer weiter voneinander. Hinzu kam, dass das Instrument in der Hausmusik zunehmend an Bedeutung verlor, was sich auf die Musikindustrie (Instrumentenbau, Verlagsprogramme etc.) auszuwirken begann. Musik ertönte zuweilen immer häufiger aus dem Grammophon.
Die Tröstungen Op. 47, komponiert 1918, wurden 1920 als eine der letzten Kompositionen Karg-Elerts bei Simon veröffentlicht (C. S. 3418, Coll. 1682). Sie sind Religiöse Stimmungsbilder (zum Teil mit hinzugefügtem Text), so der Untertitel. Über die Widmung („Frau Gertrud Haunstein – Leipzig in Dankbarkeit zu eigen.“) schrieb der Komponist: „[Die Tröstungen] sind einer lieben edlen Frau gewidmet, anlässlich des Todes ihres herzensguten Mannes: des Major Haunstein, dessen heimlicher Gönnerschaft ich es verdanke, dass meine Familie während der entsetzlich-wütenden Kriegsjahre nicht verhungert ist, was sehr leicht hätte geschehen können...... Da vero!“.
Die Stücke sind vom Komponisten so eingerichtet, dass sie sowohl für das Druckluft- wie auch für das in dieser Aufnahme verwendete Saugluft-System spielbar sind. Karg-Elert gibt für die beiden Systeme in jedem Stück noch konkrete Registrier- und Spielanweisungen.
Den Nummern liegen religiöse Titel und Texte zugrunde:
Nr. 1: „Wollest meine Seele stillen“ (Gustav Schüler) [in As-Dur]
Nr. 2: Jesu, sei mein Tröster [in F-Dur]
Nr. 3: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis [in es-moll]
Nr. 4: „Selig sind, die da Leid tragen“ [in C-Dur]
Nr. 5: „Herr, schicke was du willt“ (Eduard Möricke) [in Des-Dur]
Nr. 6: Komm, Trost der Nacht [in Es-Dur]
Nr. 7: Dein ist die Kraft und die Herrlichkeit (Nachspiel) [in C-Dur]
Nr. 8: „Du führest, Herr, die Sache meiner Seele“ (Gustav Schüler) [in Es-Dur]
Die Nummern 3 und 7 sind in bearbeiteter Form als Opus 142 [I], 9 und 12 in der Sammlung Sempre Semlice für Orgel im Jahr 1932 vom Komponisten wiederverwendet worden. Zur Nummer 3 schrieb Karg-Elert später einmal: „Meine 3/2 Taktarten sind immer recht ernst zu nehmen (Siehe „Tröstungen“ alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis).“
Zu den Nummern 1, 4, 5 und 8 hatte Karg-Elert in einem Schreiben vom 27. August 1919 seinem Verleger den Vorschlag gemacht, sie als Sonderausgabe erscheinen zu lassen, da diese für eine Solostimme mit Begleitung (Harmonium, Klavier oder Orgel) „wie geschaffen“ seien. Eine Textunterlegung hatte er bei diesen Stücken von vornherein vorgesehen. Am 9. September 1919 teilte Simon dem Komponisten sein Einverständnis für dieses Ansinnen mit. Simon wollte die Nummern einzeln erscheinen lassen. Doch wie so oft konnte Karg-Elert vermutlich durch die hohe Arbeitslast dieses Vorhaben nicht zeitnah weiterverfolgen. Zudem nahm er zum Wintersemester 1919/1920 eine Lehrtätigkeit am Leipziger Konservatorium auf. Ein Mitarbeiter des Verlages hakte daher ein Jahr nach dieser Verabredung zur Einzelveröffentlichung nochmals beim Komponisten nach: „Weiter ist in Opus 47, (Tröstungen) eine Notiz aufgenommen, dass die Nummern 1,4,5,8 auch für eine Solostimme mit Begleitung des Harmoniums (Orgel oder Klavier) erscheinen. Wie steht es mit dieser Angelegenheit? Ich möchte gern mit den Arbeiten weiter kommen, und bitte um gütige Lieferung der Manuskripte.“ Diese Einzelausgaben für Gesang mit Begleitung wurden später von Simon annonciert, konnten jedoch bis heute nicht aufgefunden werden.
Karg-Elert lagen die Tröstungen offensichtlich sehr am Herzen, denn er nahm sie (zumindest teilweise) ins Programm seiner Amerika-Tournee 1932 auf. Im März 1943, zehn Jahre nach Karg-Elerts Tod, schrieb seine Tochter Katharina an den Bautzener Domorganisten und früheren Studenten Karg-Elerts, Horst Schneider: „Vater spielte auf der Amerika-Tournee ein ‚Memoriam‘, das er aus den ‚Tröstungen‘ für Harmonium, Op. 47 zusammengestellt hatte. Er nahm zuerst Nr. 3 – Alles Vergängliche, dann Nr. 6 – Komm, Trost der Nacht – und abschließend noch einmal Nr. 3 – sodaß die Form a-b-a entstand. Freilich ist es kein ausgesprochenes Orgelwerk, aber es hatte immer sehr gute Wirkung. Ich habe es mir zufälligerweise neulich einmal hier durchgespielt auf einer sehr brauchbaren, allerdings kleinen Orgel und mußte mir selbst eingestehen, daß es recht gut zusammenpaßt.“
Die Marienkapelle in Petzer wurde vom Komponisten 1912 zunächst in Die hohe Schule des Ligatospiels, Op. 94 veröffentlicht (Simon, Berlin, C. S. 3363-3364, Coll. 496a-b). Die 26 Etüden waren vom Komponisten als instruktive Stücke „zur höheren Ausbildung nebst paedagogischer Anmerkung für den Selbstunterricht für Harmonium (aller Systeme)“ angedacht. Das als Unterrichtswerk angelegte Kompendium besteht aus zwei Heften und umfasst in Heft I die #-Tonarten (von Nr. 1 in C-Dur bis Nr. 14 in dis-Moll) und in Heft II die b-Tonarten (von Nr. 15 in F-Dur bis Nr. 26 in es-Moll). Gewidmet hatte es Karg-Elert dem Komponisten Karl Kämpf „in Wertschätzung zu eigen“. Über seinen „in Harmoniumkreisen den allerbesten Ruf habenden“ Kollegen äußerte Karg-Elert sich in einem Brief an den Verlag C. F. Peters anerkennend: „Kämpf schreibt modernen Satz, gute und gesunde Musik und wird, zumal bei den Anhängern des Sauglufttyps, als führender Mann der sehr gemässigten Moderne angesehen.“
Das kleine Stück Marienkapelle in Petzer hatte für den Komponisten als Unterrichtsstück durchaus einen gewissen Wert, denn er benutzte es 1914 erneut für die Elementar-Harmonium-Schule (Op. 99), einem Basislehrwerk für das Harmoniumspiel, das Neuauflagen in den Jahren 1916, 1930 und sogar noch 1951 (!) erfuhr. Die letzten beiden Auflagen erschienen bei Breitkopf & Härtel, da der Verlag Simon 1928 an den großen Traditionsverlag verkauft wurde.
Für diese „Studie für Portatospiel“ mit „zusammengesetzten Rhythmen“ (so der Übungsauftrag im Untertitel) gab er folgende genaue Spielanweisungen und Erläuterungen: „Bei gebundener Oberstimme und choralartigem Satze sollen die Zweiachtel mit angebundener Triole portato, mit geringstem Tastenhub und rhythmisch sehr frei gespielt werden. Um Leseschwierigkeiten leicht zu überwinden, lasse man anfänglich die Portatonoten unberücksichtigt und deute sie als halbe Noten um, so daß man einen choralartigen Satz erhält. Das Stück ist ein romantisches Stimmungsbild in einfachster, nicht impressionistischer, doch immerhin persönlich gefärbter Sprache; es redet von feierlicher Stille eines weltabgeschiedenen Winkels in dem dem Autor dieses Werkleins besonders ans Herz gewachsenen Riesengebirge. Ob man die Portatonoten als Psalmodieren oder als hergewehtes Glockengeläute deutet, bleibt jedem überlassen und ist für die inhaltliche Deutung völlig belanglos.“
Dirk Mühlenhaus, Karg-Elert-Gesellschaft