Lars David Kellner

Stefan König über Max Regers Harmoniumgesamtwerk, ersteingespielt von Lars David Kellner

March 18, 2023

Booklet-Text zum aktuellen Album.

Neben der Romanze a-moll, die sich großer Beliebtheit erfreute und letztlich in zwölf Bearbeitungen (u. a. von Karg-Elert für Harmonium und Klavier und von Carl Stabernack für Kunstharmonium) vorlag, ist nur noch eine Originalkomposition Max Regers für Harmonium bekannt: Die Fughette a-moll WoO IV/18 entstand für ein im April 1902 bei Anton Böhm in Augsburg publiziertes Harmonium-Album, das der im oberbayerischen Bad Aibling wirkende Lehrer und Chorregent Alban Lipp herausgab. Der Kontakt zu Lipp, der selbst über 100 kirchenmusikalische Kompositionen hinterlassen hat, könnte über Regers Vater, einen Lehrerkollegen, zustande gekommen sein. Das eineinhalbminütige Stück, das harmonisch ganz regerisch schweift, erschien im ersten Heft des Albums, das insgesamt 35 Werke beinhaltet. Es blieb lange im Verborgenen und wurde erst 1997 von Wilhelm Krumbach – wenngleich auf der Orgel – eingespielt (1) sowie nachträglich ins Reger-Werkverzeichnis aufgenommen. Lars David Kellner spielt die Fughette nun erstmals in ihrer Originalbesetzung für Harmonium ein.


Bearbeitungen eigener Werke für den häuslichen oder kirchlichen Kontext, die der Popularisierung seiner Musik dienten, lagen Reger stets am Herzen. So arrangierte er 1897 das Adagio aus seiner Orgelsuite e-Moll Op. 16 für die Besetzung Harmonium und Klavier, eine damals durchaus gebräuchliche Besetzung. Im September 1902 publizierte er eine Harmonium-Übertragung der Invocation, des langsamen Satzes aus der II. Orgelsonate Op. 60 von 1902, sechs Jahre später eine des Benedictus aus den Zwölf Stücken für Orgel Op. 59. Während die harmonisch, motivisch und technisch komplexe Sonate als Ganze einen so schweren Stand in der Musikwelt hatte, dass der Komponist von dem Verleger Constantin Sander (Verlag F. E. C. Leuckart) »Lamentationskarten« darüber erhielt, »daß die Kauflust« bezüglich des Werkes »immer geringer würde«,(2) ergaben sich für die bei Presse und Interpreten beliebte Invocation »zur Regerzeit unzählige Einzeldarbietungen«.(3) Sie sei »voll elegischem Zauber durchweht« schrieb Alexander W. Gottschalg, der einst Orgelberater Franz Liszts war. Zum Abschluss des Satzes wird, »gleichsam als Stimmen aus der Höhe«(4) die Choralmelodie »Vom Himmel hoch, da komm ich her« in die musikalische Faktur eingewoben.

Bei der Übertragung der Invocation von der Orgel auf das Harmonium hat Reger mehrere Eingriffe vorgenommen: Die Harmonium-Fassung ist im Vergleich zum Original in doppelten Notenwerten geschrieben und in der geschwinden virtuosen Mittelsektion (Più mosso assai) von 21 auf 8 Takte gekürzt; der Übergang in das Andante sostenuto ist neu gestaltet. Ob die Angaben zur Registrierung, inklusive die Verwendung des Expressionszugs, von Reger stammen, ist eher fraglich, vermutlich wurden sie verlagsseitig hinzugefügt. Denkbar ist zudem eine gewisse Zusammenarbeit mit Josef Reger, der zum eigenen Gebrauch ein Manuskript mit Harmonium-Fassungen von Orgel- bzw. Klavierstücken und Liedern seines Sohnes erstellte, das einen eigenen Übertragungsversuch der Invocation sowie den komprimierten Più mosso-Teil enthält.


Die Harmonium-Bearbeitung des Benedictus aus Opus 59 entstand auf Wunsch des Verlegers Henri Hinrichsen (Verlag C. F. Peters), der Reger im März 1908 aufgrund der Popularität des Stückes um diese »Kleinigkeit«(5) bat. Die bereits 1901 bei Peters gedruckten Zwölf Stücke Op. 59 zeigen – so der Münchner Kritiker Theodor Kroyer – »den Tonsetzer von seiner konzilianten Seite«.(6) Das an neunter Stelle stehende Benedictus stellt »mit einiger Sicherheit das meistgespielte freie Orgelwerk Regers zu Lebzeiten«(7) dar. Die Bearbeitung überliefert das Stück taktgleich zur Orgelfassung; das Verhältnis zwischen Original und Bearbeitung ist enger als im Falle der Invocation. Die Orgel-Pedalstimme übertrug Reger fast durchgängig als Oktavklänge. Rein formal ist beim Benedictus – ebenso wie bei der Invocation – aufgrund des geforderten Tonraums bis hinein in die Kontra-Oktave offensichtlich der Einsatz eines Saugwindinstruments vorgesehen. Die Bearbeitung wurde ein großer Erfolg: 1039 der großzügig auf 1050 Exemplare angelegten Auflage konnte der Verlag bis 1918 verkaufen.(8)

Die Dreißig kleinen Choralvorspiele Op. 135a, entstanden zwischen August und November 1914, sind eine introvertierte kompositorische Antwort Regers auf den beginnenden Ersten Weltkrieg. Mit seinem Rückzug in die Innerlichkeit geht eine für Reger ungewöhnliche Einfachheit der Tonsprache und des technischen Anspruchs einher. Laut seiner Mitteilung an den Verlag Simrock sollte »jeder Landorganist« diese Vorspiele über »die gebräuchlichsten Choräle«(9) – und dies auch auf mechanischen Orgeln – spielen können. Sie präsentieren eine »abwechslungsreiche Folge aus Cantus firmi […], die Reger bereits an anderer Stelle bearbeitet hatte, und aus Melodien, die in seinem Œuvre neu sind«.(10) Einige von ihnen, wie »Aus tiefer Not schrei ich zu dir«, »Jesus, meine Zuversicht« und vor allem »O Haupt voll Blut und Wunden« (»Wenn ich einmal soll scheiden«) besitzen in Regers Werken als Zitate gleichsam Bekenntnischarakter. Die Choralmelodien verlaufen häufig im Sopran an der Spitze eines Kantionalsatzes, bisweilen aber auch als prominente Mittel- oder Baßstimme. Einige Vorspiele lassen sich manualiter ausführen. Die Stücke stehen überdies im Zusammenhang mit Regers Mitwirkung bei den Andachtskonzerten in thüringischen Städten, bei denen er als Generalmusikdirektor des Fürstentums Sachsen-Meiningen an der Orgel improvisierte.

Im Juni 1915 trat der Verlag mit der Idee eines Harmonium-Arrangements an den Komponisten heran, das diesmal jedoch delegiert werden sollte. Reger zeigte sich grundsätzlich einverstanden, wünschte sich die Bearbeitung »aber von [Karl] Kämpf, nur von Kämpf, nicht von dem gräßlichen Karg-Elert.«(11) Das zunächst gegenseitig wertschätzende Verhältnis von Reger und Sigfrid Karg-Elert war vermutlich seit der Rezension Karg-Elerts vom Dezember 1909 zu Regers Streichquartett Op. 74, die bei Letzterem Empörung auslöste, schwer belastet.(12) Überdies konnte Reger mit Karg-Elerts Kompositionen nichts anfangen. Der wohl profundeste Kenner des Harmoniums, der bereits mehrere Bearbeitungen von Regers Harmonium-Romanze vorgelegt und noch Anfang des Jahres die Erlaubnis erhalten hatte, das Benedictus für Kunstharmonium zu übertragen, kam für die Choralvorspiele somit nicht mehr in Frage. Stattdessen ging der Auftrag, wie von Reger verfügt, an den ausgebildeten Pianisten und Komponisten Karl Kämpf (1874–1950) in Berlin, der sich auf Anregung des Verlegers Paul Koeppen bereits seit geraumer Zeit auf das Harmonium verlegt hatte. In einem zeitgenössischen biografischen Bericht ist über Kämpf zu lesen: »Binnen kurzer Zeit brachte er es in der Beherrschung dieses Instruments bis zur Virtuosität und schuf dann, nachdem er die Geheimnisse desselben erforscht hatte, eine Reihe von Stücken, teils für Harmonium als Soloinstrument, teils in Verbindung mit der menschlichen Stimme und anderen Instrumenten.«(13)

Reger erhielt somit einen erfahrenen Spezialisten und zeigte sich mit dessen Arbeits-Resultat, das im Juli 1915 vorlag, »ganz u. gar einverstanden«.(14) Das Arrangement ist sowohl für das seit 1903 mit standardisierter Disposition ausgestattete sogenannte Normal-Harmonium als auch für das Druckwind-Harmonium ausgelegt. Kämpf schreibt detaillierte Registrierungen vor, die für beide Harmonium-Typen separat angegeben sind. Reger erlebte die Veröffentlichung der Choralvorspiele in Kämpfs Bearbeitung nicht mehr. Sie erschien im Dezember 1918, zweieinhalb Jahre nach seinem Tod. Während bereits zahlreiche Einspielungen der Choräle auf der Orgel vorliegen, wurde die durch Max Reger autorisierte Bearbeitung von Karl Kämpf bis dato nicht auf Tonträger publiziert. Diese bemerkenswerte Lücke soll hiermit geschlossen werden.



Stefan König, Max-Reger-Institut

1 Einspielung in Historische Orgeln im Landkreis Südwestpfalz vorgestellt vom Wilhelm Krumbach, in Zusammenarbeit mit dem Südwestfunk, Label da music CD 77335, [1997].

2 So Regers Bericht an seinen Freund Karl Straube im Brief vom 8. Dezember 1902 in Max Reger. Briefe an Karl Straube, hrsg. von Susanne Popp, Bonn 1986 (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Institutes/Elsa-Reger-Stiftung Bonn, Bd. 8), S. 38.

3 Hermann Wilske, Max Reger – Zur Rezeption in seiner Zeit, Wiesbaden 1995 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts Bonn, Bd. XI), S. 176.

4 Rezension von Alexander W. Gottschalg in Urania 59. Jg. (1902), Nr. 5, S. 36.

5 Brief Hinrichsens vom 9. März 1908 an Reger, in Max Reger. Briefwechsel mit dem Verlag C. F. Peters, hrsg. von Susanne Popp und Susanne Shigihara, Bonn 1995 (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts/Elsa-Reger-Stiftung Bonn, Bd. 13), S. 226.

6 Theodor Kroyer, Rezension in Allgemeine Zeitung (München) Nr. 319, 11. November 1901, Abendblatt, S. 1.

7 Wilske (wie Anm. 16), S. 127.

8 Vgl. ebda., S. 372.

9 Brief vom 3. Oktober 1914 an Wilhelm Graf (Verlag N. Simrock), in Max Reger. Briefe an den Verlag N. Simrock, hrsg. von Susanne Popp, Stuttgart 2005 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts Karlsruhe, Bd. XVII), S. 142.

10 Alexander Becker, »„Rücknahme und Verschleierung“. Regers „Dreißig kleine Choralvorspiele Op. 135a für Orgel“«, in Musik & Kirche 93. Jg., Heft 1 (Januar/Februar 2023), S. 26.

11 Brief Regers vom 2. Juni 1915 an den Verlag N. Simrock, in Simrock-Briefe (wie Anm. 22), S. 246.

12 Vgl. Dirk Mühlenhaus, »Karg-Elert & Reger – Ein Albtraum«, in Mitteilungen der Karg-Elert-Gesellschaft Bd. 13 (2022), S. 69 ff.

13 Julius Hagemann, »Karl Kämpf«, in Monographien moderner Musiker. Bd. II: 20 Biographien zeitgenössischer Tonsetzer mit Porträts, Leipzig 1907, S. 129.

14 Postkarte Regers vom 13. Juli 1915 an Karl Kämpf, Stadtmuseum Weiden, Max-Reger-Sammlung, Signatur: K 191b.