Lars David Kellner

Stefan König über Max Regers Harmoniumgesamtwerk, ersteingespielt von Lars David Kellner

March 18, 2023

Booklet-Text zum aktuellen Album.

Max Reger und das Harmonium

Das Harmonium war Max Reger seit Jugendtagen vertraut. Erstmals in Kontakt mit dem Instrument kam er vermutlich 1886 während seines ersten Ferienaufenthalts bei seinem Patenonkel Johann Baptist Ulrich auf Gut Königswiesen nahe Regensburg. Ulrich sollte Reger zwei Jahre später den Besuch der Bayreuther Festspiele ermöglichen und damit in diesem den Wunsch, Musiker zu werden, auslösen. Die Übe-Aktivitäten des Dreizehnjährigen stießen bei den Gastgebern jedoch auf Widerstand, wie Reger ein Jahr später seinem Klavierlehrer Adalbert Lindner in Weiden berichtete: »Das Harmonium steht im Klavierzimmer. Ich habe noch sehr wenig Harmonium gespielt. 1. Heuer sind alle Musikalien für Harmonium verschwunden 2. Frau Pate sieht es nicht gern. Sie glaubt immer, ich würde etwas ruinieren.« Das seinerzeit beliebte Instrument, das in keinem gutbürgerlichen Haus fehlen durfte, behielt Reger auch während seiner Wiesbadener Studentenzeit (1891–1898) im Blick. Als Klavierlehrer verkehrte er in den mondänen Kreisen der Kurstadt. Unter anderem unterrichtete er Bertha von Seckendorff, die Pflegeschwester von Elsa von Bercken, seiner späteren Ehefrau. Diese erinnerte sich an das gemeinsame Musizieren: »Wir spielten das Largo von Händel in einer der zahlreichen Bearbeitungen. Berthel saß am Flügel, Reger stand neben ihr und spielte Geige, während ich dabei das Harmonium übernahm. Dies „Trio“ hat uns allen dreien eine große Freude bereitet.« Als Reger 1898 nach einer persönlichen Krise notgedrungen ins Weidener Elternhaus zurückkehrte, schuf er seine ersten großen Orgelwerke ohne klangliche Zuhilfenahme durch ein adäquates Instrument. »Das ist ja famos, daß Sie solch ein großes Harmonium (dazu mit mehreren selbst.[ändigen] Pedalst.[stimmen]) haben«, äußerte er gegenüber einem Bekannten, »da beneide ich Sie ordentlich darum! Ich selbst habe da gar nichts«. Wohl erst nach Regers Umzug mit seinen Eltern und seiner Schwester Emma nach München-Haidhausen im September 1901 gelangte ein Harmonium, welches sein Vater gekauft hatte, in den Familienbesitz. Als Reger ein Jahr später mit seiner Braut Elsa einen eigenen Hausstand gründete, verblieb es in der elterlichen Wohnung in der Wörthstraße 35. Das auf einer ca. 1903 aufgenommenen Fotografie abgebildete Harmonium ist höchstwahrscheinlich dieses Instrument. Es handelt sich um ein einmanualiges Saugwindharmonium des Kgl. Bayerischen Hof-Piano- und Harmonium-Fabrikanten M. J. Schramm, Modell »Hofberg-Orgel«, das an die Schwester Emma weiter vererbt wurde und schließlich als Schenkung von Regers Urgroßnichte 2012 ins Karlsruher Max-Reger-Institut gelangte. Nach Restaurierung ist es gut spielbar und erfreut als besonderes Schmuckstück dieBesucher des MRI.

Mit Karl Maendler, dem Geschäftsführer der Firma Schramm, verhandelte Reger im Oktober 1902 den Kauf eines Harmoniums für seine zukünftige Schwiegermutter Auguste von Bagenski für deren Sommerhaus in Schneewinkl bei Berchtesgaden. Und im Januar 1904 lieferte er ihm das Manuskript seiner Romanze a-moll WoO IV/11, die in der Originalfassung für Harmonium und als eigenhändige Bearbeitung für Orgel als erstes Verlagsprodukt Schramms auf den Markt kam. Als Gegenleistung versprach Maendler dem Komponisten ein zweimanualiges »Pedalharmonium im Werte von M 1300 bis M 1400« und erbat sich Regers öffentliche Empfehlung seiner Instrumente. Geliefert wurde jedoch schließlich ein Instrument der Leipziger Harmonium-Fabrik von Theodor Mannborg, das Reger ab ca. Mai 1904 »im ausgiebigen Gebrauch« hatte und werbewirksam in der Neuen Zeitschrift für Musik anpries: »Die einzelnen Register zeichnen sich durch eine seltene Charakteristik der Klangfarbe aus, die Mechanik und Spielweise funktioniert selbst beim schnellsten Spiel ausgezeichnet«. Wie lange dieses Harmonium in seinem Besitz war, ist nicht bekannt.

Anders als etwa für Sigfrid Karg-Elert, der als Harmonium-Komponist auch für den Konzertsaal schrieb, war das Harmonium-Spiel für Reger auch im biografischen Sinn eine familiäre, also nach innen gerichtete Angelegenheit. Es verband ihn musikalisch mit seinem Vater, dem Weidener Präparandenlehrer Josef Reger, der ein Liebhaber des Instruments war. Als Max Reger im Mai 1903 eine Anfrage von Josef Aibl in München erreichte, der vom Komponisten »einige Lieder […] in Bearbeitung für Harmonium allein herausgeben« wollte, konnte Reger diese Aufgabe an den Vater delegieren. »Mein Name kommt nur aufs Titelblatt als Bearbeiter«, schrieb Max Reger seinen Exklusiv-Verlegern Carl Lauterbach und Max Kuhn, die er um Erlaubnis zur Publikation bei Aibl fragen musste.

Seitdem Reger in München als Interpret eigener Werke auftreten konnte und sich in Konzerten im Hotel »Bayerischer Hof« und im Palais Portia den Ruf als bester Klavierbegleiter der Stadt erspielt hatte, waren auch seine Lieder immer bekannter geworden. Die Sammlung der Zwölf Ausgewählten Lieder in Josef Regers Harmonium-Bearbeitung »mit beigefügtem Text«, die im Herbst 1903 herauskam, berücksichtigt die bis dato am häufigsten gespielten Titel aus den Lied-Opera 31, 35, 43, 48, 55 und 62. Von Traum durch die Dämmerung Op. 35 Nr. 3 und Ruhe Op. 62 Nr. 3 legte Josef Reger zwei Fassungen an: »für gewöhnliches Harmonium« sowie für Saugwind-Instrumente mit größerer Disposition, namentlich »für Harmonium mit Aeoline 2’«. Natürlich sind einige expressive Solostücke auch auf einem Druckwind-Kunstharmonium bestens umsetzbar. Die erhaltenen Manuskripte zeigen, dass der pensionierte Lehrer bei seinen Arrangements mehrere Anläufe nahm. Dass ihm sein Sohn letztlich mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat, ist anzunehmen.

Wann Reger seine Sammlung »Ausgewählte Stücke klassischer und moderner Meister für Harmonium bearbeitet« anlegte, ist nicht dokumentiert. Die für das Autograph verwendete Papiersorte legt eine Bearbeitungszeit im Winter 1898/99 nahe; Reger war kurz zuvor in sein Weidener Elternhaus zurückgekehrt. Gewidmet hat er das zwölfseitige Notenmanuskript mit Übertragungen von acht Klavierstücken »seinem hochverehrten Onkel Herrn J. B. Ulrich«, bei dem er einst in Königswiesen zu Besuch gewesen war. Die Sammlung, die bislang weder im Notendruck noch auf Tonträger veröffentlicht wurde, ist gleichsam ein musikalisches Poesiealbum voller Erinnerungen an die Jugendzeit.

Vier der Bearbeitungen beziehen sich auf Charakterstücke von Frédéric Chopin: das Nocturne Es-Dur Op. 9/2, die Ballade F-Dur Op. 38, das Nocturne G-Dur Op. 37 Nr. 2 und die Etude E-Dur Op. 10 Nr. 3. Chopin hatte in Regers pianistischer Ausbildung eine zentrale Rolle gespielt. Aus Sondershausen hatte der 17-jährige Erstsemester im Sommer 1890 an Adalbert Lindner in Weiden geschrieben: »Ich habe jetzt durch Chopin 12 Etüden op 10 u. von op 25 N 1, 3, 4, 7, 9. Wenn Sie diesen Brief erhalten, dann studiere ich N 2 u. N 1 der 3 Etuden für die Methode v. Moscheles u. Fétis. Ich kann auf diese Weise bis Oktober mit Chopin fertig sein. Mühe kostet es, aber es geht.« Im Sommer 1898 war der polnische Komponist erneut in Regers Fokus gerückt. In seinen Vier Spezialstudien für Klavier, zu denen sich Anfang 1899 noch eine fünfte fügte, reicherte er Chopin’sche Walzer, Impromptus und Etüden mit Terzen bzw. Sexten an und erfüllte damit die Bedürfnisse der Klaviervirtuosen. Die wohl kurz darauf folgenden Harmonium-Arrangements hingegen berücksichtigen nicht komplette Stücke, sondern Reger konzentriert sich auf die Präsentation der Hauptmelodien, die auf diesem Instrument eine neue Beleuchtung erfahren. So ist das Nocturne Op. 9 Nr. 2 um die ornamentale Durchführung gekürzt, von der Ballade und der Etude sind gar nur die ersten Abschnitte und von dem Nocturne Op. 37 Nr. 2 nur die Kantilene der Mittel-Sektion übertragen. Figuratives Rankenwerk insbesondere der linken Hand ist in vorwiegend akkordische Strukturen aufgelöst. Überdies schreibt Reger dem melodischen Verlauf eigene dynamische Wellenbewegungen und Zielpunkte, eine detaillierte Phrasierung sowie eine für ihn typische Agogik ein.

Ebenso verfährt er auch beim Arrangement des Poème d’amour Op. 3 von Adolf von Henselt (1814–1889), mit dessen Musik Reger ebenfalls seit Kindertagen vertraut war: Weihnachten 1886 hatte er die Douze Études caractéristiques Op. 2 des St. Petersburger kaiserlichen Hofpianisten geschenkt bekommen, den sein Klavierlehrer Adalbert Lindner auch einmal in Weiden kennen lernen durfte. Regers Bearbeitung des Poème d’amour, die den abschließenden Brillante-Teil ausspart, ist geprägt von schnellen dynamischen Entwicklungen, die dem Stück, das aus den 1840er Jahren stammt, ein modernes Gepräge geben.

Die übrigen drei – überwiegend homophonen – Stücke hat Reger in vollem Taktumfang übertragen: Botschaftaus Albumblätter Op. 124 von Robert Schumann, das Gebet der Elisabethaus Richard Wagners Tannhäuser sowie Mein Christbaum, ein kurzes Salonstück des Württemberger Komponisten August Reiser (1840–1904), das im Dezember 1886 als Musikbeigabe in der Neuen Musik-Zeitung publiziert worden war. Die Berücksichtigung des berühmten Gebets aus dem Tannhäuser, dasals Klavierauszug in keinem der populären Wagner-Alben zum musikalischen Hausgebrauch fehlen durfte und in Regers Harmonium-Einrichtung neue Farbschattierungen erhält, unterstreicht die sehr persönliche Werkauswahl, verband Reger doch mit Wagner sein kompositorisches Erweckungserlebnis. Dieses verdankte er dem Bayreuth-Besuch mit seinem Patenonkel Johann Baptist Ulrich, dem Widmungsträger der Harmonium-Sammlung.

Neben der Romanze a-moll, die sich großer Beliebtheit erfreute und letztlich in zwölf Bearbeitungen (u. a. von Karg-Elert für Harmonium und Klavier und von Carl Stabernack für Kunstharmonium) vorlag, ist nur noch eine Originalkomposition Max Regers für Harmonium bekannt: Die Fughette a-moll WoO IV/18 entstand für ein im April 1902 bei Anton Böhm in Augsburg publiziertes Harmonium-Album, das der im oberbayerischen Bad Aibling wirkende Lehrer und Chorregent Alban Lipp herausgab. Der Kontakt zu Lipp, der selbst über 100 kirchenmusikalische Kompositionen hinterlassen hat, könnte über Regers Vater, einen Lehrerkollegen, zustande gekommen sein. Das eineinhalbminütige Stück, das harmonisch ganz regerisch schweift, erschien im ersten Heft des Albums, das insgesamt 35 Werke beinhaltet. Es blieb lange im Verborgenen und wurde erst 1997 von Wilhelm Krumbach – wenngleich auf der Orgel – eingespielt sowie nachträglich ins Reger-Werkverzeichnis aufgenommen. Lars David Kellner spielt die Fughette nun erstmals in ihrer Originalbesetzung für Harmonium ein.

Bearbeitungen eigener Werke für den häuslichen oder kirchlichen Kontext, die der Popularisierung seiner Musik dienten, lagen Reger stets am Herzen. So arrangierte er 1897 das Adagio aus seiner Orgelsuite e-Moll Op. 16 für die Besetzung Harmonium und Klavier, eine damals durchaus gebräuchliche Besetzung. Im September 1902 publizierte er eine Harmonium-Übertragung der Invocation, des langsamen Satzes aus der II. Orgelsonate Op. 60 von 1902, sechs Jahre später eine des Benedictusaus den Zwölf Stücken für Orgel Op. 59. Während die harmonisch, motivisch und technisch komplexe Sonate als Ganze einen so schweren Stand in der Musikwelt hatte, dass der Komponist von dem Verleger Constantin Sander (Verlag F. E. C. Leuckart) »Lamentationskarten« darüber erhielt, »daß die Kauflust« bezüglich des Werkes »immer geringer würde«, ergaben sich für die bei Presse und Interpreten beliebte Invocation»zur Regerzeit unzählige Einzeldarbietungen«. Sie sei »voll elegischem Zauber durchweht« schrieb Alexander W. Gottschalg, der einst Orgelberater Franz Liszts war. Zum Abschluss des Satzes wird, »gleichsam als Stimmen aus der Höhe« die Choralmelodie »Vom Himmel hoch, da komm ich her« in die musikalische Faktur eingewoben.

Bei der Übertragung der Invocation von der Orgel auf das Harmonium hat Reger mehrere Eingriffe vorgenommen: Die Harmonium-Fassung ist im Vergleich zum Original in doppelten Notenwerten geschrieben und in der geschwinden virtuosen Mittelsektion (Più mosso assai) von 21 auf 8 Takte gekürzt; der Übergang in das Andante sostenuto ist neu gestaltet. Ob die Angaben zur Registrierung, inklusive die Verwendung des Expressionszugs, von Reger stammen, ist eher fraglich, vermutlich wurden sie verlagsseitig hinzugefügt. Denkbar ist zudem eine gewisse Zusammenarbeit mit Josef Reger, der zum eigenen Gebrauch ein Manuskript mit Harmonium-Fassungen von Orgel- bzw. Klavierstücken und Liedern seines Sohnes erstellte, das einen eigenen Übertragungsversuch der Invocation sowie den komprimierten Più mosso-Teil enthält.

Die Harmonium-Bearbeitung des Benedictus aus Opus 59 entstand auf Wunsch des Verlegers Henri Hinrichsen (Verlag C. F. Peters), der Reger im März 1908 aufgrund der Popularität des Stückes um diese »Kleinigkeit« bat. Die bereits 1901 bei Peters gedruckten Zwölf Stücke Op. 59 zeigen – so der Münchner Kritiker Theodor Kroyer – »den Tonsetzer von seiner konzilianten Seite«. Das an neunter Stelle stehende Benedictus stellt »mit einiger Sicherheit das meistgespielte freie Orgelwerk Regers zu Lebzeiten« dar. Die Bearbeitung überliefert das Stück taktgleich zur Orgelfassung; das Verhältnis zwischen Original und Bearbeitung ist enger als im Falle der Invocation. Die Orgel-Pedalstimme übertrug Reger fast durchgängig als Oktavklänge. Rein formal ist beim Benedictus – ebenso wie bei der Invocation – aufgrund des geforderten Tonraums bis hinein in die Kontra-Oktave offensichtlich der Einsatz eines Saugwindinstruments vorgesehen. Die Bearbeitung wurde ein großer Erfolg: 1039 der großzügig auf 1050 Exemplare angelegten Auflage konnte der Verlag bis 1918 verkaufen.

Die Dreißig kleinen Choralvorspiele Op. 135a, entstanden zwischen August und November 1914, sind eine introvertierte kompositorische Antwort Regers auf den beginnenden Ersten Weltkrieg. Mit seinem Rückzug in die Innerlichkeit geht eine für Reger ungewöhnliche Einfachheit der Tonsprache und des technischen Anspruchs einher. Laut seiner Mitteilung an den Verlag Simrock sollte »jeder Landorganist« diese Vorspiele über »die gebräuchlichsten Choräle« – und dies auch auf mechanischen Orgeln – spielen können. Sie präsentieren eine »abwechslungsreiche Folge aus Cantus firmi […], die Reger bereits an anderer Stelle bearbeitet hatte, und aus Melodien, die in seinem Œuvre neu sind«. Einige von ihnen, wie »Aus tiefer Not schrei ich zu dir«, »Jesus, meine Zuversicht« und vor allem »O Haupt voll Blut und Wunden« (»Wenn ich einmal soll scheiden«) besitzen in Regers Werken als Zitate gleichsam Bekenntnischarakter. Die Choralmelodien verlaufen häufig im Sopran an der Spitze eines Kantionalsatzes, bisweilen aber auch als prominente Mittel- oder Baßstimme. Einige Vorspiele lassen sich manualiter ausführen. Die Stücke stehen überdies im Zusammenhang mit Regers Mitwirkung bei den Andachtskonzerten in thüringischen Städten, bei denen er als Generalmusikdirektor des Fürstentums Sachsen-Meiningen an der Orgel improvisierte.

Im Juni 1915 trat der Verlag mit der Idee eines Harmonium-Arrangements an den Komponisten heran, das diesmal jedoch delegiert werden sollte. Reger zeigte sich grundsätzlich einverstanden, wünschte sich die Bearbeitung »aber von [Karl] Kämpf, nur von Kämpf, nichtvon dem gräßlichen Karg-Elert.« Das zunächst gegenseitig wertschätzende Verhältnis von Reger und Sigfrid Karg-Elert war vermutlich seit der Rezension Karg-Elerts vom Dezember 1909 zu Regers Streichquartett Op. 74, die bei Letzterem Empörung auslöste, schwer belastet. Überdies konnte Reger mit Karg-Elerts Kompositionen nichts anfangen. Der wohl profundeste Kenner des Harmoniums, der bereits mehrere Bearbeitungen von Regers Harmonium-Romanze vorgelegt und noch Anfang des Jahres die Erlaubnis erhalten hatte, das Benedictus für Kunstharmonium zu übertragen, kam für die Choralvorspiele somit nicht mehr in Frage. Stattdessen ging der Auftrag, wie von Reger verfügt, an den ausgebildeten Pianisten und Komponisten Karl Kämpf (1874–1950) in Berlin, der sich auf Anregung des Verlegers Paul Koeppen bereits seit geraumer Zeit auf das Harmonium verlegt hatte. In einem zeitgenössischen biografischen Bericht ist über Kämpf zu lesen: »Binnen kurzer Zeit brachte er es in der Beherrschung dieses Instruments bis zur Virtuosität und schuf dann, nachdem er die Geheimnisse desselben erforscht hatte, eine Reihe von Stücken, teils für Harmonium als Soloinstrument, teils in Verbindung mit der menschlichen Stimme und anderen Instrumenten.«

Reger erhielt somit einen erfahrenen Spezialisten und zeigte sich mit dessen Arbeits-Resultat, das im Juli 1915 vorlag, »ganz u. gar einverstanden«. Das Arrangement ist sowohl für das seit 1903 mit standardisierter Disposition ausgestattete sogenannte Normal-Harmonium als auch für das Druckwind-Harmonium ausgelegt. Kämpf schreibt detaillierte Registrierungen vor, die für beide Harmonium-Typen separat angegeben sind. Reger erlebte die Veröffentlichung der Choralvorspiele in Kämpfs Bearbeitung nicht mehr. Sie erschien im Dezember 1918, zweieinhalb Jahre nach seinem Tod. Während bereits zahlreiche Einspielungen der Choräle auf der Orgel vorliegen, wurde die durch Max Reger autorisierte Bearbeitung von Karl Kämpf bis dato nicht auf Tonträger publiziert. Diese bemerkenswerte Lücke soll hiermit geschlossen werden.

Stefan König, Max-Reger-Institut